Norwegen diagonal - Dieter Wolf durchquert Norwegen zu Fuss

Mit dem Velo dreimal so weit

Dieter Wolf, 17. Mai 2015

Nach den 6 Wochen auf Ski mit Pulka war in der Polarkreis-Stadt Mo I Rana ein Grundsatzentscheid nötig: Wie weiter? Der Schnee taugt nicht mehr zum Skilaufen und ist an Sonnenhängen schon weggeschmolzen, liegt aber oberhalb von nur 300 m Meereshöhe teils noch meterhoch, zu Fuss ein Ding der Unmöglichkeit. Und in den schneefreien Tälern gibt`s hier in Nordtroendelag keine Wanderwege, nur die grosse Nord-Süd-Strasse E6, wenige kleinere Parallelstrassen. Ich habe keine Lust, 500 km auf Teer zu wandern. Da ich aber aus eigener Kraft weiterreisen will, bleibt nur das Velo auf der Strasse. Und es entpuppt sich als ideales Verkehrsmittel für meine Bedürfnisse. Damit hat sich mein Reisetempo auf mehr als das Dreifache erhöht, nämlich auf gut 12 km/h.

(Fast) verkehrsfreier "Wildnisweg"

Villmarksveien heisst eine recht verwinkelt verlaufende Strassenverbindung rund 40 km östlich der Hauptverkehrsachse, und auf den 250 km von Mo I Rana südwärts begegne ich tatsächlich mehr Tieren als Autos. So jede halbe Stunde rollt ein Auto vorbei oder entgegen, die Fahrer grüssen meist – um diese Jahreszeit ist ein Velofahrer ein Exot hier. Häufiger sehe ich – schon nicht mehr so weisse – Schneehasen, ganze Herden von Rentieren, Füchse und seltener Elche. Diese mächtigen Huftiere mit der knolligen Nase sind aber sehr scheu und verschwinden schnell im Gebüsch, im Gegensatz zu den Rentieren. Gerade will ich eine enge Flussbrücke überqueren, da galoppiert eine Herde von der andern Seite heran – und stoppt mitten auf der Brücke, als die Leittiere mich realisieren. Was nun? Ich wende sofort und stelle mich schnell ein Stück weg von der Strasse, da braust der Pulk schon an mir vorbei – auf die saftig grüne Weide beim Bauernhof. Gutes Fressen überwindet alle Hemmungen – bei mir ja auch, wenn ich nach 100 km in 9 Stunden gleich zweimal am selben Abend einen Riesenteller Pasta verzehre.

Aus Weiss wird Grün

Stundenlang folge ich nochmals Hochtälern unweit der Grenze zu Schweden, die Fjellruecken beidseits noch ganz weiss. Aber dann senkt sich die Strasse von 600 m auf 200 m hinab in das tiefeingeschnittene Schluchttal der Sanddøla, das sich unten bald weitet – und da ist der grüne Frühling! Ganze Teppiche von Buschwindröschen breiten sich unter den deutlich ausschlagenden Birken aus, goldgelbe Löwenzahnbörder säumen die Strasse, die Bauern pflügen ihre Äcker, säen an, fruchtbare Landwirtschaftsgegend hier Richtung Steinkjer, noch 120 km vor Trondheim. Noch ist längst nicht Touristensaison, wo finde ich eine Hytta? Auf der Halbinsel im zürichseegrossen Snosa-See liegt Oldernaes Gard, und die Gastwirte Ragnheid und Bjoern begrüssen mich herzlich. Ich bekomme die wunderbar direkt am Wasser gelegene “Expeditionskoia”, mache Feuer im Cheminee, blicke auf die weite Wasserflüche hinaus. Gegen Abend wandere ich – tut das meinem Hintern gut, der sich noch immer nicht ganz an den Velosattel gewöhnt hat – zum Wikingergrab aus dem 6. Jahrhundert hinaus, auf dem eigens vom Hausherrn angelegten winzigen Waldpfad.

Norwegischer Nationalfeiertag, 17. Mai

Gerade rechtzeitig treffe ich in der kleinen Provinzstadt Steinkjer am Fjord ein, um die grosse Parade zur Feier der Unabhängigkeit von Schweden seit 1905 mitzuerleben. Die Bevölkerung flankiert die Hauptstrasse und jubelt den vorbeiziehenden Musikkorps, Sportvereinen – der Skiklub natürlich auf Rollskis – Landwirtschafts- und anderen Schulen sowie Trachtengruppen zu. Jede Frau, jedes Mädchen trägt eine wunderbar mit Stickereien verzierte Bunad, das Festkleid, über dessen Rücken sich die langen blonden Haare offen ausbreiten – dieser Anblick freut jeden Mann. Der trägt aber auch festliches Jacket und Hut. Hier schwenke ich das Norwegenfähnli ebenso begeistert, wie ich in Sulitjelma am 1. Mai die Internationale mitgesungen habe.